Projektionen und die Persönlichkeitsentwicklung

„Nehmen Sie nichts persönlich. Was andere Menschen tun, hat nichts mit Ihnen zu tun. Die Worte und Taten anderer sind eine Projektion ihrer eigenen Realität, ihres eigenen Traumes. Wenn Sie den Meinungen und Handlungen anderer Menschen gegenüber immun sind, werden Sie nie das Opfer unnötiger Leiden sein.“

Don Miguel Ruiz „Die vier Versprechen. Ein Weisheitsbuch der Tolteken“

 

Im Rheinland und sonst wo in Deutschland ist gerade die Karnevalssaison zu Ende gegangen. In diesem Zusammenhang höre ich jedes Jahr skeptische bis wenig schmeichelhafte Kommentare wie „kann damit nichts anfangen“, „brauch mich nicht zu verstellen“, „peinlich“, „albern“, „Anlass und Ausrede, um sich daneben benehmen zu dürfen“, „Saufveranstaltung“, etc. Die heftigeren Kommentare lasse ich lieber weg, staune jedoch über die Heftigkeit der ausgelösten Emotionen. 

Nun, die Jecken, wie die kostümierten Karnevalisten im Rheinland heißen, werden feiern, egal, was man über sie denkt und sagt. Deswegen drängt sich für mich die Frage auf, ob die zum Teil rigorose Haltung der Karnevalsgegner eher mit ihnen selbst zu tun hat. Wollen sie vielleicht selbst ausgelassen feiern und können/dürfen das nicht, um die Fassade des Normalseins aufrechtzuerhalten und nicht als verrückt, durchgeknallt, oder was auch immer zu gelten? Beim nächsten Mal, wenn ich so etwas höre, werde ich mal nachfragen. Versprochen 🙂 

Projektion als Hin- oder Vorwurf

Vielleicht kennst du den psychologischen Abwehrmechanismus namens „Projektion“ dem Namen nach nicht, doch ich bin mir fast sicher, dass du ihn genutzt hast, vielleicht nicht im Zusammenhang mit dem Karneval.

Der Begriff Projektion umfasst das Übertragen und Verlagern eines Konfliktes durch die Abbildung eigener Emotionen, Affekte, Wünsche und Impulse, die im Widerspruch zu eigenen und/oder gesellschaftlichen Normen stehen können, auf andere Personen, Menschengruppen, Lebewesen oder Objekte der Außenwelt.

Der lateinische Wortursprung „proicio“ bedeutet „hinwerfen“ oder „vorwerfen“, was man umgangssprachlich als bewussten oder unbewussten Vorwurf verstehen kann, was uns in einer Person als „zu viel“, „zu wenig“, „zu …“ stört. Der Fokus liegt also nicht beim Betrachter selbst, sondern bei einer anderen Person, und eine Projektion kann mit starken Emotionen verbunden sein, also im Affekt geäußerten Gefühlsregungen.  

Es sind immer die anderen, oder?

Fast jeder projiziert seine unbewussten Anteile auf andere Menschen, denn das ist der übliche Weg, seine eigenen Schatten nicht wahrnehmen zu müssen. Diese unliebsamen Eigenschaften werden somit auf andere Menschen projiziert, dass was man bei sich nicht wahrnehmen möchte.

Als ich damals das Anfängerseminar zum 1. Grad Rainbow Reiki® besuchte, ging es u.a. darum, dass die spirituelle Persönlichkeitsentwicklung nur mit Werten wie Eigenverantwortung, Liebe und Bewusstsein einhergeht, auch als das ELB-Prinzip bekannt.

Ich meinte eine Zeit lang diese Werte nicht nur verstanden zu haben, sondern auch zu leben nach dem Motto „Ja, ich bin eigenverantwortlich, liebevoll und bewusst. Wo ist das Problem?“ Also, Haken dran und was liegt als Nächstes auf meinem spirituellen Weg an. 

Doch im Laufe meiner Ausbildung, Supervisionen und Lehrtätigkeit fielen und fallen mir immer mehr Situationen ein, wo ich selbst oder mein Gegenüber dünnhäutig, wütend, zornig, verärgert oder trotzig reagierte und andere Menschen für diese Emotionen verantwortlich machte.

Die meisten von uns sind sich dessen nicht einmal bewusst, dass wir die Aufmerksamkeit nicht nach innen, sondern nach außen lenken, sodass der Projektionsstrahl „natürlich“ auf andere gerichtet ist. Der Fehler liegt ja beim Anderen, was er macht, was und wie er sagt, wie er sich unmöglich verhält, dass er uns diese und jene Gefühle beschert, Frust und Ärger bereitet und überhaupt ein ganz doofer Zeitgenosse ist, mit dem wir am besten nichts zu tun haben wollen.

Wir heben den Zeigefinger auf diese Person und geben einen tadelnden oder zurechtweisenden Kommentar für sein Verhalten ab, der üblicherweise mit „Du bis/ hast…!“ anfängt. In der dritten Person, wenn wir über diese unverschämte Person sprechen, dann natürlich mit „Sie oder er ist/hat …!“

Die versteckte Agenda von Projektionen

Wenn wir in unseren Projektionen verfangen sind, verlangen wir quasi, dass die andere Person damit aufhört, was immer sie sagt oder tut, damit wir unseren Frieden finden können. Und sei es, dass sie aufhört, uns auf diese unmögliche Art und Weise anzuschauen, anzulächeln, anzugrinsen, etc. Damit haben wir den illusionären Kontrollanspruch über das Verhalten von anderen.

Das Fingerpointing auf eine andere Person, wie sie aussieht, wie sie sich verhält, was sie glaubt, sagt oder tut, ist typisch bei Projektionen und lenkt von uns selbst ab. 

Wenn duckmäuserisches, devotes Verhalten dich antriggert, weil solche Menschen in deinen Augen ohnmächtig und ohne Rückgrat erscheinen, könnte es sein, dass du selbst nicht sonderlich selbstbewusst bist und anderen nach dem Mund redest. Diese Person verhält sich halt so, wie sie sich halt verhält, sodass deine Reaktion und deine Emotionen darauf sprechen für dich und deine Innenwelt. Entweder bist du es leid, immer die/den Starken abzugeben oder du selbst kuschst in Bezug auf eine deutlich geäußerte Meinung oder du hast ein unbearbeitetes Thema in Bezug auf Ohnmacht und die damit zusammenhängende Gefühle. 

Das Beschuldigen von anderen kann sich manchmal als unkontrollierter Gefühlsausbruch von Wut, Zorn, Scham, Ekel, etc. entladen. Wie können nur Franzosen Froschschenkel mögen, Mongolen die Schafsinnereien als Delikatesse betrachten oder Mexikaner Würmer essen!!! Das kommt bitteschön nicht auf den Teller, denn man isst ja so etwas nicht!

Eine Einladung zur Selbsterkenntnis

Wie wäre es, wenn du statt dich über Ess- und sonstige Gewohnheiten und Verhalten von anderen Menschen und Kulturen zu echauffieren, dich selbst fragst: „Warum habe ich eine solche starke Reaktion bezüglich des Verhaltens X der Person Y?“ Denn es sind deine Emotionen, für die nur du verantwortlich bist. Kein Mensch isst Insekten, um dich zu verärgern oder damit du dich ekelst oder deinen kulinarischen Geschmack zu beleidigen. So wichtig bist du nicht, dass du es persönlich nehmen musst. Insekten sind einfach eine wertvolle Eiweißquelle für Milliarden von Menschen auf diesem Planeten. Und ich mag sehr gerne Schafsinnereien, die sind echt lecker 🙂

Ich möchte dir nicht weiter mit diesen gewöhnungsbedürftigen Essgewohnheiten zu nahe treten. Es ist lediglich eine Einladung an dich, auf eine lohnende und spannende Entdeckungsreise zu dir selbst zu gehen. Bist du bereit, dir deiner Schatten bewusst zu werden und für deine Worte, Gefühle und Handlungen, sprich für dein Lebensglück die Verantwortung zu übernehmen? Bist du bereit für das Leben des ELB-Prinzips? (Obacht, bevor du mit „Ja“ antwortest: Ich habe mir sagen lassen, dass es keine weiteren Alternativen für diese drei Prinzipien zur spirituellen Persönlichkeitsentwicklung gibt, und das Ego besonders hartnäckig auf dieses Trio reagiert.)

Laut Barry und Janae Weinhold, den US-amerikanischen Psychologen gibt es folgende Kriterien, die auf eine Projektion zutreffen („How to break free of the drama triangle and victim consciousness“, CICRCL Press 2017, Colorado Springs): 

  • Du tendierst zu einer Überreaktion auf eine Kleinigkeit. 
  • Du möchtest, dass jemand aufhört, etwas zu sagen oder zu tun, was dich stört oder unerwünschte Gefühle in dir hervorruft.
  • Du machst andere für deine unerwünschten Gefühle verantwortlich.
  • Du sagst: „Du machst mich …“
  • Du nimmst persönlich, was andere sagen oder tun, weil du glaubst, dass sie dich verärgern oder absichtlich verletzen wollen.

Jetzt, wo du dich vielleicht schon dabei ertappst, dass du den „lieben“ Projektionen auf die Spur gekommen bist, hilft dir möglicherweise der folgende Selbsttest, den ich aus dem obigen Buch der beiden Weinholds übersetzt habe: 

Ein Selbsttest in Bezug auf Projektionen

Bitte gib auf einer Skala von 1 bis 4 an, wie häufig die folgenden Aussagen auf dich  zutreffen: 1= fast nie, 2 = manchmal, 3 = oft, 4 = fast immer.

___ 1. Meine Reaktionen auf Konflikte ist viel stärker als erwünscht.

___ 2. In einem Konflikt überkommen mich die Gefühle, die ich in ähnlichen Situationen in der Vergangenheit hatte.

___ 3. Bei einem Konflikt fokussiere ich mich darauf, was die andere Person sagt oder macht.

___ 4. Ich merke, dass ich emotional geladene Wörter wie „immer“ oder „nie“ verwende, um den Konflikt mit der anderen Person zu beschreiben. 

___ 5. Ich sehe in anderen Menschen positive Eigenschaften, die ich bei mir siebst nicht sehe. 

___ 6. Ich sehe in anderen Menschen negative Eigenschaften, die ich bei mir selbst nicht annehmen will. 

__ 7. Ich habe ein Problem damit, einen Fehler zuzugeben. Stattdessen zeige ich unverzüglich auf etwas anderes, was jemand anderes getan oder gemacht hat und mache sie dafür verantwortlich. 

__ 8. Ich nehme nicht wahr, wenn jemand mir etwas sagt, was ich nicht hören möchte.

__ 9. Wenn ich weiß, dass jemand mich nicht mag, meide ich ihn wie die Pest.

__ 10. Ich stelle fest, dass ich den Charakter und das Verhalten von Menschen moralisch verurteile, die ich nicht mag.

Auflösung der Punkte: 

10 – 20: wenige Hinweise auf Projektionen

21 – 30: einige Hinweise auf Projektionen

31 – 40: starke Hinweise auf Projektionen

Die Arbeit fängt jetzt erst an

So, und was kannst du mit dieser Erkenntnis anfangen, dass du Projektionen in irgendeiner Ausprägung hast? Was kannst du machen, wenn du feststellt, dass du andere für deine Gefühle, Fehler und dergleichen verantwortlich machst statt bei dir selbst zu schauen? 

Robert Bly, der US-amerikanischen Schriftsteller und Weisheitsbewahrer, definiert einen fünfstufigen Entwicklungsprozess in Bezug auf Projektionen.

Stufe 1: Du bist deiner Projektionen unbewusst.

Stufe 2: Du erkennst, dass du du Projektionen hast, weißt jedoch nichts damit anzufangen. 

Dein (Ehe-)Partner beispielsweise erscheint dir manchmal als Tyrann, doch manchmal ist er sehr liebevoll zu dir, was dich stark verunsichern und alte Ängste aktivieren kann.

Stufe 3: Deine Beziehungen leiden unter deinen Projektionen, und du beanspruchst moralische Rechtfertigung für deine Handlungen. 

Oft sieht man das bei Eltern, die ihr Kind „zu dessen Wohl“ hart bestrafen und dadurch ihre Autorität „festigen“. Du urteilst schnell über andere Menschen und Gruppen von Menschen nach dem Motto „Alle Politiker sind Verbrecher“ o.ä.

Stufe 4: Du lässt deinen Schutzwall kurz herunter und erkennst, was du anrichtest. Du siehst, dass die Beziehung zu deinen Mitmenschen unter deinen Projektionen leiden. Dies kann dich dazu bringen, über deine Probleme nachzudenken und dein Leben zu ändern. Du kannst eine Therapie anfangen oder dich einer Selbsthilfegruppe anschließen und damit anfangen, Verantwortung für deine Probleme zu übernehmen. 

Stufe 5: Du fängst an, deine Schattenseiten zu integrieren. Das bedeutet, dass du dir jeden unbeliebten, verdrängten, auf andere projizierten Anteil von dir anschaust, bis du ihn annimmst als deinen eigenen Anteil, Thema, Problem, Charakterzug. Dadurch wirst du tiefere, echte Gefühle für dich und andere entwickeln, die auf Liebe basieren und nicht vom Ego kommen. 

Laut Bly neigen Menschen, die ihren Schatten integriert haben, zum Sein statt zum Tun und können eher Kummer ausdrücken als Wut oder Zorn. Sie haben mehr Energie, benötigen weniger Schlaf, sind weiser und kritischer in ihren Entscheidungen. 

Bis du jedoch soweit bist, wird dein innerer Magnet Menschen anziehen, die dich ärgern oder provozieren, denn hier findet das hermetische Gesetz „Wie oben, so unten. Wie innen, so außen.“ Anwendung. 

Projektionen sind Sand im eigenen Getriebe, nicht in dem deines Gegenübers. Damit wir uns verstehen: wenn ich „du“ sage, meine ich auch mich selbst, denn auch ich habe genug davon. Die eigenen Gefühle, Gedanken und Handlungen von anderen Menschen dermaßen abhängig zu machen und immer wieder auf dieselben Knöpfchen zu reagieren – die Erkenntnis ist anfangs erschreckend, dann ernüchternd und mit der Zeit amüsant. 

Ja, amüsant, weil man anderen Menschen so viel Macht zuschreibt oder sich selbst so wichtig nimmt, dass man meint, dass andere sich gegen einen verschworen haben. Etwas Humor hilft, sich selbst und andere mit Mitgefühl und Liebe zu betrachten, als Menschen mit Herz und Ego. 

Nach der Lektüre dieser kurzen Abhandlung kannst du nun sagen „Interessant, aber ich muss jetzt dies oder jenes machen“. Oder du kannst anfangen eine Bestandsaufnahme deiner Projektionen zu machen und daran zu arbeiten, beispielsweise mit den spirituellen Methoden zur Persönlichkeitsentwicklung aus Rainbow Reiki®, damit du Menschen und Situationen in dein Leben anziehst, die zu dir passen und dich so annehmen und mögen, wie du bist. Viel Spaß und Erfolg beim Neujustieren deines inneren Magneten!

 

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