Wenn der Maibaum sprechen könnte …

Der Baum symbolisiert in vielen Kulturen die kosmische Ordnung. Er steht als Weltachse im Zentrum der Welt, verbindet über seine Wurzeln die Erde und mit der Krone den Himmel. In der germanisch-keltischen Kultur ist die Weltenesche Yggdrasil die Wirbelsäule, d.h. die Achse, die Stütze des Universums und verkörpert die gesamte Schöpfung: räumlich, zeitlich und inhaltlich. Der Baum des Lebens ist auch ein archetypisches Muster aus Kabbala, welches nicht nur eine Darstellung der Schöpfungsgeschichte ist, sondern eine Landkarte des geistigen Universums und ein Diagramm des menschlichen Wesens ist. Archetypen sind unbewusste Urbilder des Menschen, unabhängig von seinem Umfeld und seiner Erfahrungen.

Die Verbindung der Deutschen mit Bäumen und Wäldern ist sehr stark und geht weit in die vorchristliche Zeit zurück. Ein moderneres Beispiel ist das alte fünfzig Pfennig Stück mit der Abbildung einer Waldarbeiterin, die ein Bäumchen pflanzt. Oder erinnert ihr euch an die Kindheit, wo damals auch ich in der fernen Mongolei mit vor Spannung aufgerissenen Augen und klopfendem Herzen die Märchen wie „Hänsel und Gretel“, „Aschenputtel“, „Brüderchen und Schwesterchen“ etc. gelesen habe.

Wälder und heilige Haine waren die Tempel von Germanen und Kelten, sodass die Verehrung des Göttlichen in der freien Natur stattfand. Gemäß der nordischen Schöpfungsgeschichte wurden Bäume aus den Haaren des Urwesens Ymir gemacht. Die Kelten hatten das Baumalphabet namens Ogham, auch Beith-Luis-Nion genannt, nach den ersten drei Bäumen (Birke-Eberesche-Esche), bestehend aus dreizehn Konsonanten und fünf Vokalen. Der Anfangsbuchstabe des jeweiligen Baums entspricht dem Buchstaben, den er bezeichnet. Das Ogham-Alphabet eignet sich genauso für magische Arbeit und Orakel wie die germanische Runenreihe Futhark.

Die Birke mit ihrem frischen Grün und leuchtenden Weiß wird gerne als Maibaum aufgestellt. Die nordische Mythologie ordnet die Birke der Göttin Saga zu, der Göttin der Wiedergeburt und der Dichtung. Saga wird auch Freyja gleichgesetzt, der Göttin der Liebe. Die Birke, auf Keltisch „Beith“, ist der erste Baum des keltischen Baumalphabets und steht für Anfang, Neubeginn, Aufstieg auf die höhere Ebene. Die Birke ist auch ein Symbol für Jugend, Freude und Wiedergeburt. Ein Birkenbäumchen vor dem Haus der Geliebten galt früher als Heiratsantrag und ist auch heute noch eine Liebesbezeugung.

Mit dem Maibaum kamen auch die Göttinnen der Birke in die Mitte des Dorfes mit und sorgten für Blüte und Fruchtbarkeit des Ortes und dessen Bewohner. Der Maibaum ist auch das Sinnbild des Weltenbaums, an dem es Schamanen und Hexen möglich ist, in die Ober-, Mittel- und Unterwelt zu reisen. An Walpurgisnacht (Beltane auf Irisch), dem Feuerfest zum 1. Mai, soll die Grenze zwischen diesen Welten sehr dünn sein und daher leicht zu überwinden. Die Symbolik geht noch weiter: der Maibaums als Phallus und der Kranz darum als Vagina, was die Bedeutung als Fruchtbarkeitsritus verdeutlicht. Und es ist ziemlich wahrscheinlich, dass nach einem ausgelassen gefeierten Maifest neues Leben gezeugt wird.

In einigen Regionen ist die Tradition verbreitet mit frischen Birkenzweigen zu schlagen. Die Schläge der Jugendlichen mit dieser „Lebensrute“ gelten meist den jungen Mädchen, damit die Energie der frisch erwachenden Natur auf sie übertragen werden kann. Die Männer schlagen sich auch auf die Oberschenkel, zur Anregung der sexuellen Energie. Jedenfalls war jeder, der eine „gepfeffert“ bekam, für ein Jahr vor Krankheiten geschützt, und wer wollte da nein sagen!

Dieser lebensbejahende und fröhliche Brauch des Maibaums trotzte allen Verbotsversuchen der Kirche und ist heute nach wie vor lebendig. Wir Menschen waren, sind und bleiben immer mit der Natur verbunden.

 

Quellen:
Elmar Woelm „Mythologie, Bedeutung und Wesen unserer Bäume“, http://www.bambusgarten.com/files/Baummythologie_eBook.pdf

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