Ostern 1254: Ein Engel in Karakorum

Vor 760 Jahren wurde in Karakorum, der multinationalen Hauptstadt des mongolischen Reiches ein großartiges Kunstwerk eingeweiht. Der Pariser Goldschmied Guillaume Boucher wurde von Möngke, dem Großkhan der Mongolen und einem Enkel von Dschingis Khan, beauftragt, vor seinem Palast einen magischen Getränkebrunnen, den legendären Silberbaum, zu erbauen. Unter den vielen Gästen, die der Einweihungsfeier beiwohnten, befand sich auch der flämische Franziskanermönch Wilhelm von Rubruk, entsandt vom Papst Innozenz IV und dem französischen König Ludwig IX an den mongolischen Hof. Seine Mission: den Großkhan zu einer Allianz gegen den Islam und zur Wiedereroberung des Heiligen Landes zu bewegen. Doch in religiöser, politischer und diplomatischer Hinsicht war Rubruks Mongolei-Reise ein Fiasko, denn Möngke Khan hatte aufgrund seiner toleranten Einstellung anderen Religionen und Kulturen gegenüber keinerlei Interesse an diesem „Projekt“.

1220 bestimmte Dschingis Khan das Gebiet, wo die Reichshauptstadt Karakorum stehen sollte, und sein dritter Sohn und Nachfolger Ögedei hat die Stadt ab 1235 erbaut. Sein Berater und Kanzler sagte ihm, dass er die halbe Welt vom Rücken des Pferdes erobern, jedoch sie nicht vom Rücken des Pferdes verwalten könne. „Mit Entstehung von Karakorum wurde der Schritt von einem reiternomadischen Herrschaftsgebilde hin zu einem stabilen Staatswesen getan,“ betont der Bonner Archäologe Hans-Georg Hüttel in seinem Beitrag „Karakorum – eine historische Skizze“ zum Ausstellungskatalog „Dschingis Khan und seine Erben. Das Weltreich der Mongolen“, S.134. Die so genannte Pax Mongolica breitete sich aus, eine Friedenszeit mit relativ stabilen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnissen, die bis zum Ende des 14. Jahrhunderts andauern sollte. Sie ermöglichte einen intensiven Handel entlang der Seidenstrasse, die den kulturellen Austausch zwischen Asien und Europa förderte. Eine Legende spricht davon, dass in dieser Zeit eine Jungfrau mit einem Topf voller Goldmünzen das Reich von einem zum anderen Ende unbehelligt durchqueren konnte.

Rubruk und die persischen Historiker beschreiben Karakorum als eine kosmopolitische Stadt mit Palästen und Verwaltungsgebäuden, mit Handelskontoren und Gesandtschaften, Marktplätzen, Basaren, Manufakturen. Hier wohnten Menschen verschiedenster Nationalitäten und Religionen, Buddhisten, Moslems, Christen, Juden, für die mittelalterliche Welt Zentralasiens eine einzigartige Konzentration. Gefördert durch die sehr offene und tolerante Haltung der mongolischen Khane allem Neuen und Unbekannten gegenüber wurde Karakorum zu einem Schmelztiegel der verschiedensten Kulturen.

So geriet Guillaume Boucher 1241 in der Schlacht von Mohi in Ungarn in Gefangenschaft und wurde von den Mongolen nach Karakorum gebracht. Dort durfte er zwar die Stadt nicht mehr verlassen, lebte jedoch im eigenen Haus in guten Verhältnissen und hatte neu geheiratet. Am Silberbaum arbeitete Bouchier mit 50 Handwerkern. Der Baumstamm war mit Zweigen, Blättern und Früchten aus Silber geschmückt. Aus vier Rohren flossen Honigmet, Airag oder Kumys (vergorene Stutenmilch), Wein und Reisbier in jeweils eine große Silberschale. An der Spitze des Baums befand sich ein Engel mit einer Trompete. Wenn ein Getränk erforderlich wurde, rief der Mundschenk zu dem Engel. Dies hörte eine Person, die in einer Höhle unterhalb des Baums saß, und blies in die Trompete des Engels. Es war das Signal für die Diener im Lagerraum für Getränke, die vier Rohre nachzufüllen.

Die Berliner Archäologin Eva Becker vermutet, dass Guillaume Boucher sich bei der Konstruktion des Silberbaums von den antiken Ideen für hydraulische und pneumatische Automaten und den persischen Quellen über mechanische Instrumente für Musik und Springbrunnen inspirieren ließ. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Boucher gerade in Karakorum Kontakt und Zugang zu den Traditionen der islamischen Welt an dem multikulturellen Hof des Großkhans hatte. Die Schlangen, die sich um den Silberbaum winden, der Engel mit der Trompete an der Spitze sowie der Baum selbst sind eindeutig Symbole der christlichen Ikonographie.

Diese Art von Kunstwerk hätte vermutlich nie im mittelalterlichen Abendland gebaut werden können. Doch ein Pariser Handwerker schaffte es in Zentralasien, antike, christliche und islamische Elemente in seinem Silberbaum in Einklang zu bringen. Dieses Werk beflügelte wie kein anderes die Phantasie der Menschen und wurde zum Sinnbild der Stadt Karakorum und ihrer unglaublichen, aber für westlichen Geschmack auch etwas seltsamen Pracht am Hof der mongolischen Herrscher.

Interessant ist die Nuance, dass der Silberbaum in der mongolischen Steppe ausgerechnet zu Ostern, einem christlichen Fest, eingeweiht wurde. Die Vermutung liegt nahe, dass religiöse Feste aller Glaubensrichtungen am Hofe von Möngke Khan salonfähig waren. Die Frage ist, was wir heute im 21. Jahrhundert daraus lernen können. Für mich persönlich ist der Silberbaum von Karakorum das Sinnbild von Frieden und Toleranz, Leichtigkeit und Lebensfreude.

In diesem Sinne: schöne Ostern!

3 Comments

  • Doris Oswald

    Reply Reply 24. März 2016

    Liebe Bolormaa,
    als Kind mochte ich die Filme von/ um Dschingis Khan sehr. Deine historische Zeitreise ist sehr interessant und bringt richtig Spaß darin einzutauchen. Ich freue mich schon auf den nächsten Artikel😀
    Frohe Ostern

    • Bolormaa

      Reply Reply 28. März 2016

      Liebe Doris,

      danke für deinen netten Kommentar. Ja, meine Zeitreisen erfolgen nur, wenn es dem Leser helfen soll, Impulse für seine Persönlichkeitsentwicklungen zu bekommen.

      Dir ebenfalls schöne Ostertage
      Liebe Grüße
      Bolormaa

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